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Einige Stunden nachdem sie das Internetcafe am Rande von Hamburg verlassen und einen Zug nach Dänemark genommen hatten, wurden Claire und Andreas dank der Kontakte des Ordens zu einem Dunklen Hafen auf dem Land gebracht. Ihre Kontaktperson, eine wunderschöne blonde Stammesgefährtin namens Danika, hatte sie in ihren Privaträumen aufgenommen, als wären sie Familienmitglieder - voller Wärme und Gastfreundschaft, ohne Fragen zu stellen.

„Ich hoffe, die beengten Verhältnisse bei mir machen euch nichts aus“, sagte sie, als sie mit ihnen in eine farbenfroh eingerichtete Küche hinüberging, die bei der Hintertür gelegen war. „Wir haben nur ein Gästezimmer und ein Bad, aber bitte fühlt euch ganz wie zu Hause.“

Das Bauernhaus, in dem Danika mit ihrem kleinen Sohn Connor und einem anderen Paar lebte, war verglichen mit den Standards der Dunklen Häfen klein. Normalerweise lebten Stammesvampire in Herrenhäusern oder riesigen Stadtvillen aus Sandstein, gelegentlich auch in exklusiven Penthousewohnungen. Die Dunklen Häfen bestanden normalerweise aus einer eng verbundenen Gemeinschaft von rund einem Dutzend Personen, die sich wie Familienmitglieder umeinander kümmerten, selbst wenn sie gar nicht blutsverwandt waren.

Aber Danikas Wohnsituation war nicht das einzige Ungewöhnliche an ihr. Sie war Mutter eines kleinen Kindes, eines niedlichen kleinen Jungen mit ihrem hellen Haar und den unverkennbar starken Genen eines Stammesvampirs. Sie hatte keinen Gefährten erwähnt, und sie hatte immer etwas Wehmütiges im Blick, besonders wenn sie ihren Sohn ansah.

Wie jetzt, als der kleine Connor sich aus Danikas Armen lehnte und eindringlich auf Andreas zeigte.

Die blauen Augen des Jungen waren groß und lebhaft, während Andreas' Blick von einem Stirnrunzeln überschattet war.

„Tut mir leid“, sagte Danika zu ihm. „Es ist die Dermaglyphe, die dir oben aus dem Kragen schaut.

Seit ein paar Wochen ist Connor ganz fasziniert von ihnen.“

Andreas grunzte und nickte dem Vampirkind zu. „Er erkennt schon seine eigene Art. Ein kluger Junge.“

Danika strahlte. „Ja, das ist er.“

Claire sah in stiller Überraschung zu, wie Andreas seinen Ärmel hochschob und zu Connors sichtlichem Entzücken mehr von seinen Hautmustern enthüllte.

Der Kleine streckte ein pummeliges Händchen aus und betatschte die wunderschönen Schnörkel und Bögen, die sich Andreas' muskulösen Unterarm hinunterzogen.

„Pa“, rief er aus. „Pa! Pa!“

„Oh!“ Danikas milchweiße Wangen färbten sich schlagartig hellrosa. „Nein, mein Schatz, das ist nicht dein Papa... oh Gott... tut mir leid. Wie peinlich.“

Claire lachte, und auch Andreas kicherte. „Ist schon gut“, sagte er. „Man hat mich schon viel Schlimmeres genannt.“

Danika lächelte, doch nun war der leise Kummer in ihre Augen zurückgekehrt. „Connors Vater Conlan war ein Ordenskrieger. Er wurde auf einer Mission in Boston getötet, bevor Connor auf die Welt kam.“

„Tut mir so leid“, murmelte Claire, als sie erkannte, wie frisch der Verlust noch war. Danikas Sohn konnte noch keine zwei Jahre alt sein.

Danika zuckte leicht mit den Schultern und räusperte sich.

„Als ich Conlan verloren habe, ging ich nach Schottland - das war seine Heimat - , um Connor auf die Welt zu bringen. Ich dachte, ich würde für immer dort bleiben und unseren Sohn in den Highlands großziehen, die Conlan so liebte. Aber als ich ohne ihn in seinem Land war, hat er mir nur umso mehr gefehlt. Ich bin letztes Jahr nach Dänemark zurückgekommen.“

Andreas strich mit seiner breiten Handfläche über Connors hellblondes Köpfchen. „Er wäre stolz auf dich, Danika, ganz egal, wo du seinen Sohn großziehst.“

„Nett von dir, das zu sagen. Danke.“ Sie lächelte schüchtern, bezaubert, dachte Claire, dem weichen Blick nach zu urteilen, mit dem sie ihn ansah. Und Andreas war wirklich charmant, besonders jetzt, als er den kleinen Jungen in seine mächtigen Arme nahm und ihn die Glyphen näher erkunden ließ, die ihn so faszinierten. Claire sah einen Schimmer des Mannes, an den sie sich von früher erinnerte - , den sorglosen, charismatischen Mann, in den sie sich vor all den Jahren so hoffnungslos verliebt hatte.

Seit er vor zwei Nächten wieder in ihr Leben gestürmt war, hatte Claire gedacht, dass es den Mann, den sie gekannt und leidenschaftlich geliebt hatte, schon lange nicht mehr gab. Ein Teil von ihm war in den Flammen verbrannt, die ihm seine Verwandten genommen und ihn als einzigen Überlebenden zurückgelassen hatten, versessen auf Rache.

Zu denken, dass sie ihm damals vorgeworfen hatte, das Leben nicht ernst genug zu nehmen... und auch ihre Beziehung nicht. Sie hatte seine schwer zu fassende, unbekümmerte Art fürchten gelernt. Sie hatte Angst gehabt, dass er sich vielleicht nie mit nur einer Frau begnügen würde, und vielleicht war es ja auch so. Natürlich hatte sie über die Jahre von seinen zahlreichen Affären gehört, allesamt mit sterblichen Frauen.

Er hatte sich nie eine Stammesgefährtin genommen und sich mit ihr häuslich niedergelassen, um Söhne mit ihr zu haben, und insgeheim hatte Claire sich gefreut, dass er diese ganze Zeit über ledig geblieben war. Was ihren eigenen schlecht gewählten Gefährten anging, hatte auch ihre lieblose Verbindung mit Wilhelm Roth keine Nachkommen produziert - was nachträglich ein Segen war, jetzt, da ihr das ganze Ausmaß von Wilhelms Heimtücke aufging.

Auch wenn Andreas nach außen so rücksichtslos und ausschweifend wirkte - damals, als Claire ihn am besten gekannt hatte, hätte er einer Frau einen wunderbaren Gefährten abgegeben. Das sah sie nun daran, wie freundlich er eben mit Danika redete und mit welcher Leichtigkeit er ihr ihren Sohn abnahm.

Claire sah ihn an und fragte sich, wie es nur hatte geschehen können, dass so viel Zeit, so viele Fehler sie entzweit hatten...

Wie lange würde sie wohl brauchen, diese strahlende, unwiderstehliche Seite von ihm wieder zu vergessen, nachdem sich Staub und Asche nach der gefahrvollen Reise, auf der sie beide sich so unerwartet wiedergefunden hatten, wieder gelegt hatten.

Wie konnte sie ihr Leben weiterleben vor dem Hintergrund von allem, was sie nun über Wilhelm erfuhr, und allem, was sie sich nun wieder mit Andreas ersehnte?

Danikas melodische Stimme durchbrach Claires düstere Gedanken. „Meine Güte, kaum zu glauben, dass schon fast Sonnenaufgang ist“, sagte sie. „Ihr müsst erschöpft sein. Möchtet ihr sehen, wo ihr schlafen werdet?“

Claire nickte. Offenbar war ihr nur allzu deutlich anzusehen, wie sie sich fühlte, so wie die andere Stammesgefährtin sie ansah - voller Sanftheit und Mitgefühl. Sie verwandelte ihr Gesicht in eine gelassene, undurchdringliche Maske - eine Fähigkeit, die sie in ihren Jahren als Wilhelm Roths Gefährtin perfektioniert hatte. „Was ich jetzt wirklich brauchen könnte, wäre ein schönes heißes Bad“, sagte sie und spürte sofort Andreas' Blick auf sich ruhen. Dabei war das doch keine unangemessene Bitte.

„Natürlich“, antwortete Danika. Sie sah zu Andreas, der immer noch den entzückten Connor hielt. „Würde es dir etwas ausmachen, auf ihn aufzupassen, solange ich Claire den oberen Stock zeige?“

„Kein Problem“, sagte er, und seine Augen durchbohrten Claire mit einer Intensität, die das Blut in ihren Venen zum Zischen brachte. „Lasst euch Zeit.

Der kleine Kerl und ich kommen schon allein zurecht.“

Claire spürte, wie sein heißer Blick ihr folgte, so greifbar wie eine Liebkosung, als Danika sie aus der Küche und die Treppe hinauf in den ersten Stock des Hauses führte.

„Das Bad ist hier“, sagte die hochgewachsene Blondine und zeigte auf die offene Tür eines Badezimmers auf dem Treppenabsatz. „Diesen Teil des Hauses benutzt sonst niemand, also fühlt euch bitte ganz wie zu Hause. Hier am Ende des Flurs ist das Schlafzimmer.“

Claire entschlüpfte ein zufriedener Seufzer, als sie in den einladenden Raum trat, mit dem Fußboden aus goldfarbenem Hartholz, den Möbeln aus dunklem Kirschbaumholz und dem breiten Doppelbett, über dem eine Patchworkdecke lag. Es war lange her, dass sie in einem Raum gewesen war, der eine so schlichte, heimelige Wärme verströmte.

„Ich habe dir ein Nachthemd rausgelegt, und im Bad findest du jede Menge Handtücher. Ich weiß nicht, an was du zu Hause gewöhnt bist, aber ich hoffe, dass du dich hier wohlfühlst.“

„Es ist wunderbar“, antwortete Claire. Langsam ging sie zu dem massiven Bett hinüber und fuhr mit den Fingern über die handgefertigte Patchworkdecke, deren seegrüne, graue und cremeweiße Quadrate ein typisch nordisches Muster aufwiesen. „Dieses Zimmer erinnert mich an das Haus meiner Familie auf Rhode Island.“

Danika lächelte. „Oh, du bist Amerikanerin?“ Sie ging zu einem hohen Schrank mit polierten Messinggriffen und öffnete ihn. „Ich dachte schon,

du klingst gar nicht wie eine Deutsche. Überhaupt kein Akzent.“

„Nein. Ich kam vor vielen Jahren nach Europa.

Übrigens, um Musik zu studieren.“ Claire ging hinüber und half Danika, ein paar extra Kissen, Bettwäsche und eine zusammengefaltete Wolldecke aus dem Schrank zu holen.

„Ich schätze, damals war ich noch sehr idealistisch, so wie viele junge Leute. Ich war hin und her gerissen zwischen meiner Liebe zum Klavier und meinem Bedürfnis, mit meinem Leben etwas wirklich Wichtiges anzufangen. Die Welt zu retten, zum Beispiel.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob die Welt gerettet werden kann“, sagte Danika und wandte sich zu ihr um, ihre blauen Augen blickten ernst. „Wo man auch hinschaut, überall Verdorbenheit und Unglück.

Ständig sterben gute Leute, sogar die, die einfach nur gute Arbeit machen wollen, damit andere es besser haben.“

Claire nickte. „Meine Eltern waren so. Meine Mutter hat ihr wohlhabendes Elternhaus in Neuengland verlassen, weil sie helfen wollte, einem kleinen afrikanischen Land sauberes Wasser und Medikamente zu bringen. Bei ihrer Arbeit in Afrika traf sie meinen Vater, einen jungen Arzt aus Simbabwe. Sie haben sich sofort ineinander verliebt, aber für eine weiße Amerikanerin und einen schwarzen Afrikaner war es damals nicht einfach, zu heiraten. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, kehrte sie in die Staaten zurück, bis ich geboren wurde. Mein Vater blieb zurück, um seine Arbeit fortzusetzen. Er wartete darauf, dass wir zu ihm zurückkamen, um eine Familie zu werden. Ein paar Monate später brachen in der Region Kämpfe aus.

Meine Mutter konnte nicht ertragen, von ihm getrennt zu sein, während das Dorf, das sie mit so viel Mühe aufgebaut hatten, vom Krieg bedroht wurde. Sie ging nach Afrika zurück. Keinen Monat später beschossen feindliche Rebellen ihr Camp. Sie wurden beide getötet.“

„Oh, Claire.“ Danika zog sie in eine mitfühlende Umarmung. ..Wie schrecklich für dich und den Rest deiner Familie. Das tut mir so leid.“

Es war lange her, dass sie über den Verlust ihrer Eltern nachgedacht hatte - ein Paar, das sie nur von Fotos und aus den Geschichten ihrer Großmutter in Rhode Island kannte, bei der sie aufgewachsen war, elternlos und anders als die anderen, und doch ein privilegiertes Kind aus der High Society von Newport. Inzwischen waren all ihre Verwandten in den Staaten tot. Das Haus aus in Newport wurde immer noch treuhänderisch für sie verwaltet, privates Hauspersonal hielt das Grundstück in Ordnung und besorgte die nötigsten Reparaturen am Haus, aber Claire war seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr dort gewesen. Sie vermisste es plötzlich, vermisste das Gefühl, wirklich zu Hause zu sein.

Danika ließ sie nach einem Augenblick wieder los und versuchte, die Unterhaltung in etwas unbeschwertere Bahnen zu lenken. „Und, für welches deiner beiden Ziele hast du dich schließlich entschieden?“

„Für keines von beiden“, gab Claire zu. „Nicht lange nach meiner Ankunft in Deutschland hatte ich meinen ersten Zusammenstoß mit einem Stammesvampir. Er war sehr jung- ein Teenager. Es war spätnachts, ich ging allein zu Fuß von einem Konzert nach Hause. Ich dachte, er wollte meine Handtasche, aber er wollte etwas anderes von mir. Er wollte mich gerade beißen, als plötzlich ein anderer Stammesvampir auftauchte und ihn daran hinderte.“

„Andreas?“, riet Danika lächelnd.

Claire schüttelte den Kopf. „Nein, nicht er. Es war... jemand anders. Ein sehr mächtiger Mann in Hamburg, aber das wusste ich damals noch nicht. Er hatte meinen Blutgeruch eingefangen, als der andere mich zu Boden schlug und ich mir die Knie aufschürfte. Er erkannte sofort, dass ich eine Stammesgefährtin war, also vertrieb er den anderen Vampir und nahm mich als seine Schutzbefohlene bei sich auf. Andreas habe ich erst später kennengelernt.“

Und genau wie bei der dem Untergang geweihten Beziehung ihrer Eltern hatten auch sie und Andre sich Hals über Kopf und völlig aussichtslos ineinander verliebt. Sie hatte die letzten dreißig Jahre damit verbracht, ihn zu vergessen; hatte versucht, sich einzureden, dass sie nach all der Zeit nicht immer noch in ihn verliebt war.

„So lange voneinander getrennt zu sein. Ich weiß, wie schwer es ist, wenn einem verweigert wird, wonach man sich am allermeisten sehnt“, murmelte Danika etwas abwesend.

Claire sah sie verblüfft an. „Was... woher weißt du...“

Die andere Stammesgefährtin holte abrupt Luft.

„Entschuldige bitte. Ich hatte nicht vor, in deine Gedanken einzudringen.“ Sie hob den Zeigefinger an die Schläfe. „Meine Gabe, fürchte ich. Ich lese nicht gerne Gedanken, und ehrlich gesagt ist es mir die meiste Zeit selbst sehr unangenehm. Aber seit Conlan nicht mehr ist, ist meine Gabe immer weniger steuerbar. Ich habe mir keinen neuen Gefährten genommen und habe das auch nicht vor, und ohne die regelmäßige Aufnahme von Conlans Blut schaltet sich meine Gabe nach Lust und Laune ein und aus.

Tut mir leid, Claire. Das war sehr unhöflich von mir.“

„Ist schon gut.“

„Ich weiß nicht, ob es dich tröstet, aber du leidest nicht allein. Andreas geht es genauso, musst du wissen. Er empfindet dasselbe Bedauern, wie du es mit dir herumträgst.“ Danika lächelte sanft. „Seine Gedanken waren vorhin in der Küche genauso deutlich zu lesen wie deine jetzt. Er ist von seiner Wut zerrissen und gebrochen, aber er leidet auch noch auf eine andere Art.“

Claire starrte sie an, unfähig, etwas zu sagen oder auch nur zu atmen.

„Das Leben ist kostbar“, fuhr Danika fort. „Und so kurz, selbst für Frauen wie uns. Vierhundertzwei Jahre mit Conlan waren nicht annähernd genug. Wir bekommen nicht oft eine zweite Chance im Leben, und auch in der Liebe nicht. Wenn ich auch nur eine einzige Minute mit meinem Conlan haben könnte, würde ich keine Sekunde an Bedauern verschwenden.

Lass Andreas wissen, was du wirklich für ihn empfindest.“

„Aber wir können doch nicht zusammen sein“, murmelte Claire leise. „Nicht mehr.“

„Das versuche mal, deinem Herzen zu sagen.“

Danika drückte Claire leicht die Hand. „Oder seinem.“

Reichen vermied es, nach oben zu gehen, noch Stunden nachdem Danika wiedergekommen war, um ihren Sohn zu holen. Sie hatte sich mit Connor zurückgezogen, um sich für den Tag schlafen zu legen, und nun schlich Reichen durch das stille Bauernhaus, schlug Zeit tot und versuchte, nicht daran zu denken, dass Claire irgendwo über ihm im Bett lag. Allein im Bett, ihr wundervoller Körper entspannt und matt. Ihre weiche hellbraune Haut, die sich wie Samt anfühlte, jeder köstliche Quadratzentimeter sauber, weich und warm...

Herr im Himmel.

Von dem Augenblick an, als sie um ein Bad gebeten hatte, hatte sie ihn dazu verdammt, sie sich so vorzustellen, nackt und duftend von einem langen, heißen Bad. Gegen alle Vernunft war er versucht gewesen, sich hinter ihr die Treppen hinauf zuschwingen, als sie mit Danika gegangen war, und dieses Gefühl war immer noch nicht verflogen. Es gab nichts, das er sich mehr wünschte, als jetzt bei ihr zu sein, sie zu trösten und sie wissen zu lassen, dass sie vor Roth und seinen Spießgesellen in Sicherheit war. Ihr zu versichern, dass er sie gegen alles Böse, das um sie herum am Werk war, um jeden Preis beschützen würde.

Seinen Verwandten oder Helene hatte er das nicht bieten können. Dort hatte er versagt.

Daran hatte ihn das Zusammensein mit Danika und ihrem kleinen Sohn wieder mit sengendem Schmerz erinnert. Er war nicht hier, um Claires Ängste zu vertreiben, genauso wenig wie er hier war, um sein eigenes Verlangen nach ihr zu stillen oder dem animalischen Ruf der Blutsverbindung nachzugeben, die ihn nun immer zu ihr hinziehen würde. Eine Blutsverbindung, die er ihr aufgezwungen hatte, wie er nicht müde wurde, sich zu erinnern.

Nein. Er war jetzt aus einem einzigen Zweck hier: Rache.

Alles andere - seine Wünsche und Sehnsüchte, seine Zukunft, sein Recht auf selbst den kleinsten Augenblick selbstsüchtiger Freude - all das war in dem Feuer verbrannt, das seinen Dunklen Hafen verschlungen hatte.

Länger noch, dachte er grimmig und erinnerte sich an die Nacht, in der er Claire zuletzt gesehen hatte.

Es war eine Nacht voller Dummheit und Gewalt gewesen, und danach hatte er zusammengeschlagen und blutüberströmt auf offenem Feld gelegen, unter einer grellen Morgensonne, die ihn verbrannte. Bis zu jenem Augenblick hatte er nichts von der Macht gewusst, mit der er seit seiner Geburt verflucht war - ihm vererbt von seiner Mutter, die er nie kennengelernt hatte, die nicht lange genug gelebt hatte, um ihn zu warnen, was seine Wut anrichten konnte.

Diese Lektion hatte er in einem Augenblick von brutaler Klarheit gelernt, an jenem schrecklichen Morgen auf dem Acker irgendwo vor Hamburg, und das Entsetzen darüber, was er getan hatte, hatte ihn nie mehr verlassen.

So viele unschuldige Opfer waren um ihn herum zu Asche zerfallen. Sein eigenes Leben raste auf das gleiche Schicksal zu, aber ihm blieb immer noch Zeit, für Gerechtigkeit zu sorgen, wenigstens für die Opfer, die auf Befehl von Wilhelm Roth ausgelöscht worden waren.

Er hatte keinen Zweifel, dass seine Wut und sein Hass das Feuer, das in ihm brannte, nur noch stärker anfachten. Früher oder später würde es ihn zerstören, aber er wollte verdammt sein, wenn er unterging, ohne Roth mitzunehmen.

Er konnte nur beten, dass seine Entschlossenheit stark genug war, um Claire auf Distanz zu halten, während er sich unaufhaltsam diesem unvermeidlichen Ende näherte.

Diese Überzeugung war es, die ihm schließlich die Kraft gab, die Treppe hochzusteigen und das Zimmer zu finden, das Danika ihnen gegeben hatte.

Außerdem wusste er nicht, ob das Paar, mit dem sie sich das Bauernhaus teilte, von seiner und Claires Anwesenheit wusste. Falls die anderen Bewohner zufällig herunterkamen und einen Fremden in ihrer Mitte vorfanden, wollte er nicht, dass Danika sie zu seinem Schutz anlügen musste.

Reichen blieb vor der geschlossenen Schlafzimmertür am Ende des Ganges stehen. Sein Puls begann heftig zu schlagen angesichts der instinktiven Gewissheit, dass Claire sich auf der anderen Seite dieser weiß gestrichenen Tür befand. Er betete, dass sie schlief. Sie musste schon schlafen, nach den Stunden, die er unten totgeschlagen hatte.

So leise er konnte, drehte er den abgegriffenen Porzellanknauf und spähte hinein.

„Hallo“, sagte sie, es war kaum mehr als ein Flüstern. Sie saß aufrecht auf der einen Seite des breiten Doppelbettes, trug ein dünnes babyblaues T-Shirt, das die dunklen Knospen ihrer Brustwarzen und die wohlgeformte Rundung ihrer Brüste nicht ganz verbarg. Eine kleine Lampe brannte neben ihr auf dem Nachttisch, goldenes Licht spielte in ihrem ebenholzschwarzen Haar und über ihr hübsches Gesicht.

Er runzelte finster die Stirn und trat ins Zimmer, schloss geräuschlos die Tür hinter sich. „Du solltest schlafen.“

Sie zuckte die Schultern. „Ich dachte, das Bad würde mich entspannen, aber ich kriege kein Auge zu.“

Er musste sich verdammt anstrengen, die heftige Begierde zu ignorieren, die ihn bei der erneuten Vorstellung von Claire durchzuckte, die nackt in einer Wanne voll dampfendem Wasser und seidigem weißem Schaum lag.

„Der Abend wird schnell kommen“, knurrte er. „Wir müssen unseren Flieger in die Staaten bei Sonnenuntergang erreichen. Du machst besser diese Lampe aus und versuchst, etwas zu schlafen.“

Sie bewegte sich auf dem Bett, streckte die Hand aus und zeigte auf die leere Seite. „Ich habe mir eines von den weicheren Kissen genommen, aber wenn du es lieber willst, kannst du es gerne haben.“

Er starrte sie finster an, was mehr dem Unbehagen über seine wachsende Erektion geschuldet war als ihrem Angebot, sich ein Kissen auszusuchen. Denn durch ihre Bewegung auf der Matratze war ihr T-Shirt verrutscht, sodass es anlag wie eine zweite Haut. Und als sich durch ihre Bewegung die Überdecke verschob, fiel sein brennender Blick auf ihr winziges Höschen.

Ein purpurrotes Höschen, das durfte ja wohl nicht wahr sein.

Er erstarrte, jedes Nervenende in seinem Körper spielte verrückt vor Erregung.

„Du weißt vielleicht noch, dass ich einen sehr festen Schlaf habe“, sagte sie, aber er hörte kaum, was sie sagte. „Wenn du dich immer noch herumwälzt und mir die Decke klaust wie früher, mach dir keine Sorgen, dass du mich aufweckst. Ich werde es wahrscheinlich gar nicht merken.“

Er kam schlagartig wieder zu sich, als ihm dämmerte, dass sie davon ausging, dass er mit ihr in einem Bett schlafen würde. Direkt neben ihr, wo das Einzige, das ihn davon abhielt, seinem unseligen Verlangen nach ihr nachzugeben, ein jämmerlicher Baumwollfetzen und ein winziges Dreieck aus rotem Satin war.

„Das Bett gehört dir“, sagte er, seine Stimme war ein raues Kratzen in seinem Hals. „Das ist hier keine Pyjamaparty, verdammt. Du kannst doch nicht erwarten, dass ich bei dir schlafe, Claire.“

Ihre Miene verdüsterte sich. „Ich wollte nicht...“

„Himmel noch mal“, murmelte er. Seine Haut prickelte unter einer plötzlichen Welle von Hitze und Hunger, die sein Verlangen nur noch heißer aufstachelte. „Mit dir in einem Bett sein ist das Allerletzte, was ich jetzt brauche.“

Er musste barscher geklungen haben als beabsichtigt, so schnell, wie sie jetzt den Blick abwandte. Sie schüttelte den Kopf, dann stieß sie einen Seufzer aus. „Das Bett ist groß genug für uns beide. Das ist alles, was ich sagen wollte.“

Er starrte sie lange an, seine Muskeln zuckten von dem Drang, sich zu bewegen, sich zu ihr auf die Matratze zu stürzen und sie unter sich zu begraben.

Er wollte es so sehr, dass es alles war, was er spüren, alles, was er schmecken konnte, als seine Fänge ausfuhren und ihre Spitzen sich in das Fleisch seiner Zunge bohrten.

„Schlaf ein wenig, Claire.“

Er riss sich von ihrem Anblick los und ließ sich in der Nähe auf dem Boden nieder. Der handgewebte Teppich, der die alten Holzdielen bedeckte, war uneben und roch schwach nach Zitronenwachs. Er warf sich auf dem harten Boden auf die Seite, die einzige Position, in der ihn sein gewaltiger Ständer, der wie eine Steinsäule zwischen seinen Schenkeln hervorragte, nicht störte.

Hatte er eben tatsächlich zu ihr gesagt, dass der Abend schnell kommen würde?

Den Teufel würde er tun.

Bis Sonnenuntergang war es noch verdammt lange hin.

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